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Pressemitteilung, 27.03.2024, Thünen
Der Ostdorschbestand ist seit Jahren in der Krise. Trotz historisch niedrigem Fischereidruck erholt sich der Bestand nicht. Bislang gab es hierfür keine schlüssige Erklärung. Forschende des Leibniz-Instituts für Ostseeforschung Warnemünde (IOW) und des Thünen-Instituts für Ostseefischerei konnten nun erstmals nachweisen, dass sich in Ostseeregionen mit großflächigen Blüten fädiger Blaualgen, die durch Überdüngung und Klimawandel verstärkt auftreten, das Nahrungsnetz für den Dorsch verlängert hat. Dadurch steht der Population deutlich weniger Energie zur Verfügung als in Gebieten ohne Blaualgenblüten. Verbessert sich das Nährstoffregime nicht, kann sich der Ostdorsch nicht erholen.
Das marine Phytoplankton ist der Energielieferant für alle Meeresökosysteme: Diese winzig kleinen, im Meerwasser schwebenden Pflanzen binden mittels Photosynthese Energie in Form von Biomasse, die dann Schritt für Schritt in den marinen Nahrungsnetzen weitergereicht wird, bis hin zu unterschiedlichen Arten von Fischen und Fischfressern. Wieviel Energie bei den unterschiedlichen Lebewesen ankommt, hängt von der Position ab, die sie im Nahrungsnetz einnehmen. Man weiß, dass von einer Ebene zur nächsten rund 90 Prozent der Energie als Wärme verloren gehen. Je mehr Ebenen ein Nahrungsnetz hat, umso weniger Energie kommt bei den Lebewesen mit den höchsten Positionen wie etwa Raubfischen an.
„Das Phytoplankton der zentralen Ostsee hat sich in den letzten drei Jahrzehnten stark verändert. Zunehmend wird es im Sommer von massenhaft auftretenden fadenförmigen Cyanobakterien dominiert. Das Phänomen ist als Blaualgenblüten bekannt“, sagt Markus Steinkopf, Meeresbiologe am IOW. Auslöser seien die klimawandelbedingt höheren Wassertemperaturen und die nach wie vor zu hohe Nährstoffbelastung der Ostsee; das begünstige Blaualgen gegenüber anderem Phytoplankton. „Aufgrund ihrer Form und Größe können fädige Blaualgen nicht von den kleinen Krebsen des Zooplanktons gefressen werden, die in marinen Nahrungsnetzen sonst die nächste Position nach dem Phytoplankton einnehmen. Welche Folgen das für die Energieversorgung höherer Lebewesen hat, war bislang weitgehend ungeklärt“, sagt der Erstautor der jetzt im Fachjournal Ecology and Evolution publizierten Studie zu Nahrungsnetz-Veränderungen in der Ostsee.
Hier setzte Steinkopf an und verglich, welche Position im Nahrungsnetz Dorsche und Flundern haben, die in der zentralen Ostsee leben, mit denen in der westlichen Ostsee, wo Blaualgenblüten keine Rolle spielen. Um die Nahrung der untersuchten Fische und somit ihre Nahrungsnetzposition zu identifizieren, nutzte er die Stickstoff-Isotopenanalyse in Aminosäuren. Denn je nachdem, was die Fische fressen, lassen sich in ihrem Muskelfleisch charakteristische Muster der unterschiedlichen stabilen Amino-Stickstoffisotope feststellen und sehr präzise interpretieren.
Bezüglich der Dorsche kam das Forschungsteam um den Warnemünder Wissenschaftler zu einem erstaunlich klaren Ergebnis: In der Blaualgen-belasteten zentralen Ostsee ist das Nahrungsnetz der dort lebenden Ostdorsche deutlich länger als das der Dorsche in der westlichen Ostsee. Steinkopf: „Die Nahrungsnetzposition des Westdorsches liegt bei 4,1, die des Ostdorsches dagegen zwischen 4,8 und 5,2. Das bedeutet einen Energieverlust von gut 60 bis 99 Prozent für den Ostdorsch im Vergleich zum Westdorsch.“ Bei den Flundern gab es hingegen zwischen den beiden Meeresgebieten nur geringe Unterschiede in der Nahrungsnetzposition: 3,4 in der westlichen vs. 3,1 in der zentralen Ostsee.
„Flundern fressen in beiden Seegebieten hauptsächlich Muscheln, deren Nahrungsnetz auf Phytoplankton basiert, auch wenn es Blaualgenblüten gibt. Große Unterschiede waren hier also nicht zu erwarten“, erläutert Uwe Krumme, Co-Autor der Studie vom Thünen-Institut für Ostseefischerei. Am Thünen-Institut, das über die entsprechende Expertise zu den Fischbeständen der Ostsee verfügt, wurden unter anderem die Fischproben für die Studie bearbeitet. „Bei den Dorschen sieht es anders aus. Westdorsche ernähren sich vor allem von der Gemeinen Strandkrabbe, die am Boden lebt. Ihr Nahrungsnetz ist daher ohnehin kürzer als das der Ostdorsche, die vor allem Heringe und Sprotten fressen, die wiederum von Zooplankton leben. Diese Ernährungsunterschiede allein können die deutlich höhere Nahrungsnetzposition der Ostdorsche aber nicht erklären“, so Krumme weiter.
Wie kommt es also zu der deutlichen Nahrungsnetzverlängerung für den Ostdorsch? „In den Blaualgengebieten stellt sich das Zooplankton um. Statt sich vegetarisch zu ernähren, frisst es Mikroben, die sich von Ausscheidungen oder Abbauprodukten der Blaualgen ernähren, wenn die Blüten absterben. Das haben frühere Analysen des IOW gezeigt. Damit entsteht eine komplette zusätzliche Nahrungsnetzebene, die zwangsläufig zu hohem Energieverlust bei den Tieren auf nachgeschalteten Nahrungsnetzpositionen führt“, erklärt Natalie Loick-Wilde, ebenfalls Co-Autorin der Studie und Spezialistin für Isotopen-basierte Nahrungsnetz-Analyse. „Diese Art der Nahrungsnetzverlängerung bei Fischen wird schon länger theoretisch diskutiert. Wir können sie nun erstmals direkt messen und eindeutig dem Blaualgen-geprägten Nahrungsnetz zuordnen“, sagt die Meeresbiologin. Sie hat am IOW eines der wenigen marinen Forschungslabore weltweit etabliert, in dem stabile Isotope von Stickstoff und Kohlenstoff in 13 verschiedenen Aminosäuren gemessen werden können.
„Die Isotopen-basierte Nahrungsnetz-Analyse ist ein wertvolles Instrument, um grundlegende Veränderungen in Ökosystemen zu sichtbar machen und Zusammenhänge besser zu verstehen. Die Energiekrise beim Ostdorsch zeigt, dass Einschränkungen bei der Fischerei für eine Bestandserholung allein nicht mehr ausreichen. Vielmehr muss das Nahrungsnetz an sich rehabilitiert werden. Das gelingt aber nur, wenn man länderübergreifend alle Möglichkeiten ausschöpft, um die Überdüngung der Ostsee in den Griff zu bekommen“, resümiert Markus Steinkopf. Die Ergebnisse zur Flunder zeigen zwar, dass nicht alle Teile des Nahrungsnetzes gleichermaßen betroffen sind. Aber: „Die Studie lässt auch vermuten, dass Nahrungsnetzverlängerungen nicht nur für die Ostsee relevant sind, sondern sich zu einem Problem globaler Natur entwickeln werden, da der Klimawandel schädliche Algenblüten und viele weitere Stressoren für Nahrungsnetze verstärkt“, so der Meeresbiologe abschließend.
Diese Pressemitteilung und die Originalpublikation findet ihr beim Thünen Institut.
Die Studie verdeutlicht, dass die Ostdorsch Krise weit über regionale Fischereifragen hinausgeht und globale Herausforderungen wie Überdüngung und Klimawandel widerspiegelt. Vor allem die Ostsee ist stark von Eutrophierung belastet und in einem alarmierend schlechtem Zustand. Eine Erholung der Ostseedorschpopulation erfordert daher eine grundlegende ökologische Sanierung der Ostsee durch internationale Kooperation.