Die Ozeane in Gefahr

Unsere Meere sind ernsthaft bedroht. Ihre Kapazität, Kohlendioxid aufzunehmen, schwindet ebenso wie die Artenvielfalt von den Polen bis zu den Korallenriffen. Da wissenschaftliche Warnungen nicht auszureichen scheinen, bleibt als letzte Hoffnung ein globaler Aufruf zu mehr politischer Aktion.

Das Weltmeer ist Kennzeichen unseres blauen Planeten, der zu 70 Prozent mit Meerwasser bedeckt ist. Nimmt man die Tiefe hinzu, sind die Ozeane der größte Lebensraum auf Erden. Vom Bakterium bis zum Wal sind alle Regionen besiedelt, etwa 250.000 Arten konnten Forscher(innen) bisher beschreiben. Die letzte „Volkszählung“ im Meer hat weitere Abertausende neue Spezies entdeckt, vom Gestelzten Korallenhai bis hin zu bizarren Tiefseewesen. Das „Census of Life“ genannte Mammutprojekt, an dem Tausende Biolog(inn)en zehn Jahre lang beteiligt waren, gleicht jedoch der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Schätzungen gehen heute davon aus, dass bis zu einer Million Arten den Lebensraum Ozean bewohnen. Es gibt also noch viel zu entdecken in dieser gewaltigen Welt, einem Lebensraum mit einer Fläche von 361 Millionen Quadratkilometern und Tiefseegräben, die bis zu 11.000 Meter hinabfallen.

Auf der anderen Seite stehen zunehmend die Erkenntnisse der modernen Meeresforschung: Satelliten vermessen Temperatur, Salzgehalt und Strömungen, und Tausende automatische Messbojen erkunden jährliche Veränderungen und Folgen des Klimawandels im Ozean. Über ausgeklügelte Messprogramme erfolgt das Monitoring der Fischbestände genauso wie die Erfassung der Verschmutzung. Was bei all den Daten bisher jedoch auf der Strecke bleibt, ist der politische Wille, diesen Lebensraum für zukünftige Generationen zu schützen. Ob als Proteinquelle für die Weltbevölkerung oder als Klimaschutzschild für alle Bürger(innen) – die Meere sind unser aller Gemeingut („Heritage of Mankind“) und verdienen dringend mehr Schutz.

Im Krieg gegen die Fische
Seit Jahrzehnten wächst die Abhängigkeit der Menschheit von den Meeren und Küsten als Nahrungsquelle. Fast die Hälfte der Erdbevölkerung lebt im Umkreis von 100 Kilometern zu den Küsten, 17 Prozent der Menschheit sind direkt auf die Versorgung mit der Proteinquelle Fisch angewiesen. Der Hunger nach ozeanischen Nahrungsmitteln steigt rapide: Mitte des vergangenen Jahrhunderts wurden 50 Millionen Tonnen Wildfisch gefangen, 2010 waren es bereits 90 Millionen Tonnen. Auch die Aquakulturen verdoppelten ihren Ertrag in den letzten Jahren und sorgen heute für eine gesamte Weltfischproduktion von 128 Millionen Tonnen. Die sogenannte „Blaue Revolution“ der 1990er-Jahre, die Förderung der Aquakultur und der Fischerei in Entwicklungsländern, war dabei ein maßgeblicher Motor, wenn man beispielsweise an die Schrimpskulturen in Indien oder Pangasiusfarmen in Asien denkt. Allerdings wird dieses Wachstum, so zeigen es die jüngsten Statistiken der Welternährungsorganisation FAO, auf Kosten der Umwelt und Fischbestände erwirtschaftet. (1) Heute gelten 30 Prozent der Bestände als überfischt, 57 Prozent werden voll ausgeschöpft. Die Fischbiomasse nimmt daher global ab. Immer rasanter kommen wir dem Fazit des Biologen Daniel Pauly näher: „Wir führen Krieg gegen die Fische und wir werden ihn gewinnen“.

Mit dem Versiegen der ozeanischen Nahrungsquellen werden sich vielfältige juristische und soziale Probleme einstellen, die schon heute in der Entwicklungspolitik Folgen zeitigen. Das Leerfischen wichtiger Fanggründe vor Westafrika sei als Beispiel genannt. Staaten können zwar versuchen ihre Schätze zu managen, aber wirtschaftliche Interessen hebeln eine Nachhaltigkeit meist erbarmungslos aus. Hinzu kommt das Problem der illegalen, undokumentierten und unregulierten Fischerei – ein riesiger, etwa 20 Milliarden US-Dollar großer Markt, der nur auf internationaler Ebene einzudämmen ist.

Bei wandernden Fischarten wie dem Thunfisch zeigt sich wieder einmal die Kurzsichtigkeit des Seerechtsübereinkommens von 1984, das die Fischereirechte bis zu 200 Seemeilen vor der Küstenlinie allein den Nationalstaaten überlässt. Solch fehlendes Management in anderen Weltregionen sollte jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch Europa bei seinen Hausaufgaben schlampt. In den EU-Gewässern ist fast die Hälfte der wichtigsten Zielfischbestände überfischt, viele Arten werden beispielsweise im Mittlermeer gar nicht überwacht, und die Bestände einiger empfindlicher Arten wie Hai und Rochen stehen kurz vor dem biologischen Kollaps.

Derlei Probleme sind seit Jahrzehnten bekannt und werden doch nur zögerlich in den politischen Prozess der Gemeinsamen Fischereipolitik (GFP) der EU aufgenommen. Auch deren derzeitige Erneuerung unterliegt einem permanenten, die Nachhaltigkeit schwächenden Einfluss der großen (südlichen) Fischereinationen. Dabei stellte bereits 2007 der Europäische Rechnungshof fest, dass die GFP ihr Hauptziel – die Bestände so zu bewirtschaften, dass eine nachhaltige Fischerei ermöglicht wird – verfehlt hat. Die Hauptgründe: Die Überkapazität der Flotte, zu hohe Fanggrenzen und zu viele Subventionen.

Die Erholung der Bestände ist (noch) möglich

Das schlechte Management könnte erklären, warum von 1995 bis 2007 der Fischfang in der Nordsee von 3,5 Millionen Tonnen auf 1,5 Millionen Tonnen drastisch gesunken ist. Oder warum heute das Durchschnittsalter des Nordsee-Kabeljaus bei nur 1,6 Jahren liegt, obwohl diese Art erst mit vier Jahren die Geschlechtsreife erreicht. Wissenschaftler(innen) schätzen, dass 93 Prozent des Kabeljaus vor der ersten Fortpflanzung gefangen wird: Kein Wunder, dass den Fischern die Fische ausgehen. Ohne Subventionen würde der Sektor zudem nicht überleben, denn volkswirtschaftlich ist er völlig unrentabel.

Die derzeitigen Verhandlungen über ein neues GFP-Regelwerk müssen daher wieder primär gesunde Fischbestände in den Vordergrund stellen, fordern die Umweltverbände WWF, Greenpeace und Ocean2012. Dabei ließe sich der ertragsreichere Zustand schnell wieder herstellen: Wenn umweltverträgliche Fangkapazitäten eingeführt würden, die Fischereiressourcen nur nach ökologischen und sozialen Kriterien gefangen werden dürften, und vor allem wenn die Subventionen im Sinne des Allgemeinwohls für einen nachhaltige Fischerei verwendet würden. Bei einer Halbierung der Fangmengen und Flotten, sowie einem Verbot der Tiefseefischerei und der zerstörerischen Schleppnetze könnten sich die Fischbestände innerhalb weniger Jahre wieder aus den – noch zu schaffenden – Schutzgebieten erholen.

Auch in anderen Sektoren des Meeresschutzes spricht die EU ein gewichtiges Wort mit. 2008 hat sie mit der Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie einen rechtsverbindlichen Rahmen geschaffen, um Schutz und auch die Nutzung der europäischen Meere in Einklang zu bringen. Die Richtlinie verfolgt dabei richtigerweise einen ganzheitlichen integrativen Ansatz, das bedeutet, dass Anliegen des Umweltschutzes in alle meeresrelevanten Politik- und Planungsbereiche, also Agrarpolitik, Fischerei, Energie oder Verkehr, einfließen sollen. Für jede Meeresregion – ob Mittelmeer oder Ostsee – ist dabei in Absprache mit den Nachbarstaaten eine eigene geeignete Meeresschutzstrategie zu entwickeln. Dazu sollen die EU-Mitgliedsstaaten bis Ende 2012 den aktuellen Umweltzustand der Meeresgewässer bewerten und eine Vision eines guten Umweltzustands erarbeiten. Schon bis zum Jahr 2014 geht es dann darum, ein Überwachungsprogramm zu starten. Bis spätestens 2015 sind Maßnahmen zu ergreifen, um den guten Umweltzustand im Meer auch zu erreichen.

Meeresschutz mit Fischereipolitik verzahnen

Dieser sogenannte „gute Zustand der Meeresumwelt“, der bis spätestens 2020 und darüber hinaus herrschen soll, wird sich nicht von selbst einstellen, und so wurden elf beschreibende Faktoren zusammengefasst, die von Artenvielfalt, Lebewelt des Meeresbodens, Eutrophierung und Chemikalienfracht bis hin zu Meeresmüll und Lärm unter Wasser reichen und nach denen sich die Staaten richten müssen.

Deutschland hat seine Bewertung mittlerweile nach Brüssel gemeldet. Für alle Unterfaktoren ergaben sich für die Nord- und Ostsee erhebliche Defizite – sowohl im Wissen um die Gefahren als auch in der Möglichkeit, etwas gegen die meist sektorübergreifenden Bedrohungen zu tun.

Denn trotz der Implementierung der Meeresschutzziele in ein EU-Rahmenrecht sind einige der Maßnahmen zum Scheitern verurteilt, wenn sie nicht flächendeckend und sektorübergreifend umgesetzt werden. Bislang ist nämlich die Verzahnung mit anderen politischen Vorgaben wie der strikteren Oslo-Paris-Kommission (OSPAR) oder der GFP kaum zu sehen. Wie soll die Vielfalt seltener Fischarten geschützt werden können, wenn die EU-Fischereipolitik gleichzeitig Grundschleppnetze erlaubt oder wenn die Industrialisierung der Meere ohne Rücksicht auf Lärm- und Umweltstandards weitergehen darf?

„Die Ozeane werden im 21. Jahrhundert eine Schlüsselrolle für die Entwicklung der

Menschheit spielen – es ist dringend an der Zeit, dieses Wissen politisch zu verankern.“

„Die Meeresumwelt ist ein kostbares Erbe, das geschützt, erhalten und – wo durchführbar – wiederhergestellt werden muss, mit dem obersten Ziel, die biologische Vielfalt zu bewahren und vielfältige und dynamische Ozeane und Meere zur Verfügung zu haben, die sauber, gesund und produktiv sind.“ So lautet es richtigerweise in der Meeresschutz-Richtlinie.

So weit wie die Meeresrahmenlichtlinie angedacht ist, bleibt zu hoffen, dass sie auch stringent in Europa umgesetzt wird. Auch Deutschland darf nicht noch länger der Umsetzung hinterherhinken, wenn das Papier auch Folgen in der Meeresschutzpraxis haben soll. Die Kritik der Umweltschutzverbände macht deutlich, dass die Verzahnung mit der gemeinsamen Fischereipolitik und auch der EU-Agrarpolitik dringend notwendig ist, damit das Debakel der EU-Wasserrahmenrichtlinie sich nicht wiederholt, deren Umsetzung noch nach einem Jahrzehnt weit von ihren Zielen entfernt ist (vgl. S. 28 ff.). (2)

Dazu ist das Vorsorge- und Verursacherprinzip dringend zu stärken. Akteure der Meeresnutzung sollten eben der Pflicht obliegen, die Meeresumwelt bei ihren Aktionen nicht zu schädigen. In der derzeitigen Debatte um den Offshore-Netzausbau und seine Lärmfolgen wird das noch zu stark missachtet. Ob internationale Verpflichtungen, EU-Recht oder nationale Schutzstrategien – die Veränderungen im Meer erfordern mehr und schnellere politische Umsetzung. Wer tagtäglich die Beanspruchung der Meere durch die Industrie und andere Interessen verfolgt, kommt nicht umhin, das Glas eher halb leer als halb voll zu sehen, zu groß ist der Nutzungsanspruch auf die Ozeane.

Doch der Preis ist hoch: Meeresschildkröten werden durch den Bau von Touristikanlagen vertrieben, Delfine, Haie und Co. sterben zu Hunderttausenden in Ringwadennetzen oder an den Langleinen als Beifang der industriellen Fischerei im offenen Meer, Schweinswale und Seevögel verenden in Stellnetzen der Ostsee und die schleichende Überdüngung oder Chemikalienfracht zerstört das Gleichgewicht der Ökosysteme. Die Ozeane werden im 21. Jahrhundert eine Schlüsselrolle für die Entwicklung der Menschheit spielen – es ist dringend an der Zeit, dieses Wissen politisch zu verankern.

 

Anmerkungen
(1) FAO (2012): The State of World Fisheries and Aquaculture 2012.
Download unter www.fao.org.

Text: Onno Groß, 2016

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