Das Forschungsschiff Polarstern umgeben von Eis

© Alfred-Wegener-Institut / Mario Hoppmann (CC-BY 4.0)

Pressemitteilung, 08.09.2023, Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung

Forschungseisbrecher zum siebten Mal am nördlichsten Punkt der Erde

[08. September 2023] Fünf Wochen nach dem Ablegen im norwegischen Tromsø erreicht das Forschungsschiff Polarstern des Alfred-Wegener-Instituts Station den nördlichsten Punkt der Erde. Das internationale Team von Forschenden untersucht auch hier die Kopplung zwischen Meereis, Ozean und seinem Leben bis in die Tiefsee. Bislang lieferte die am 3. August 2023 gestartete Expedition Arcwatch-1 einige überraschende Entdeckungen: So zeichnet sich 2023 durch ungewöhnliche Eisdrift aus, die die Lebensgemeinschaften unter dem Eis beeinflusst. Zudem hat das Team eine erstaunliche Artenvielfalt an einem bislang unkartierten Seeberg in 1500 Meter Wassertiefe unter dem Eis entdeckt.

Am 3. August 2023 ist der Forschungseisbrecher Polarstern im norwegischen Tromsø in See gestochen, um zwei Monate lang im Arktischen Ozean zu forschen. Ziel der aktuellen ArcWatch-1-Expedition ist es, die Biologie, Chemie und Physik des Meereises sowie die Auswirkungen des Meereis-Rückgangs auf das gesamte Ozeansystem von der Oberfläche bis in die Tiefsee zu untersuchen sowie in bisher unkartierte Regionen vorzudringen.

Nach einem kurzen Zwischenstopp auf Spitzbergen erreichte die Polarstern am 6. August die Eiskante bei 81,5° Nord und 17° Ost. In den darauffolgenden Wochen wurden Eisstationen zunächst entlang 85°N im Nansen- und Amundsen-Becken des Arktischen Ozeans durchgeführt, und dann nördlich entlang 130° Ost. Die Expedition erreichte dabei Anfang September die Region, in der die MOSAiC-Drift-Expedition in 2019 startete. Über tausende von Quadratkilometern wurden bisher 50 Bojen und autonome Messstationen verteilt. Zudem wurden mit dem vom Helikopter geschlepptem Messsystem „IceBird“ Eisdickenmessungen durchgeführt und parallel mit Fernerkundungsmethoden die Dynamik der Meereisbedeckung großflächig untersucht. Für die mehrtägigen Eisstationen legte das Schiff jeweils an einer Scholle an, Forschende gingen auf das Eis, bauten autonome Beobachtungsstationen auf, erforschten die Unterseite der Scholle mit einem Roboter und zogen Eiskerne, um das Leben im Netzwerk der winzigen Meereiskanäle zu untersuchen. Vom Schiff aus beprobten sie den Ozean unter dem Eis bis hinunter zum Meeresboden und setzten dafür verschiedene Tiefsee-Technologien wie das am AWI entwickelte Kamera- und Sonarsystem „Ocean Floor Observation and Bathymetry“ System (OFOBS) ein.

Letzteres lieferte am 21. August eines der vielen bisherigen Highlights der Expedition. Mithilfe von OFOBS konnten die AWI-Forschenden einen 2500 Meter hohen, bislang unkartierten Seeberg vermessen. Seine Basis liegt in 4000 Metern Tiefe, seine Spitze reicht bis 1500 Meter Tiefe unter die Meeresoberfläche. „Am Gipfel des Seebergs wimmelt es nur so vor Leben“, sagt Antje Boetius, Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), die die Expedition leitet. „Wir fanden hier riesige, fast einen halben Meter große Schwämme, die über und über besiedelt waren mit Würmern, Krebsen und Weichkorallen. Für uns sehr überraschend stießen wir aber auch auf unzählige Fische, Aalmuttern und Scheibenbäuche, die für ihre Antifrost-Proteine bekannt sind. Die wunderschönen apricot-farbenen, fast einen halben Meter großen Seeanemonen waren ein fantastischer Anblick.“

Ein Ziel der Expedition sind zudem Vergleiche zu früheren Untersuchungen aus dem Jahr 2012 wie auch zu Untersuchungen der MOSAiC-Expedition. Im Jahr 2012 war das Team – ebenfalls unter Leitung der AWI-Direktorin Antje Boetius – mit Polarstern während der größten Meereisschmelze seit Beginn der Satelliten-Aufzeichnungen unterwegs. Über eine riesige Fläche fielen damals Meereislebewesen ins Wasser und sanken in die Tiefsee – besonders die fadenbildende endemische Meereisdiatomee Melosira arctica. Bei der Zersetzung der Algenteppiche durch Meeresbodenbakterien entstanden Sauerstoffminima im Meeresboden der Arktis. Das Team konnte nun elf Jahre später feststellen, dass das wiederholte Ausschmelzen der Meereisalgen in den vergangenen Jahren die Zusammensetzung der Meeresbodengemeinschaft verändert hat: ehemals dominante Arten wie Haarsterne sind verschwunden, dafür gibt es deutlich mehr Ringel- und Borstenwürmer sowie Seegurken. Allerdings fehlt dieses Jahr die Meereisalge Melosira arctica in großen Bereichen des Untersuchungsgebietes – sowohl im Eis wie am Meeresboden. Antje Boetius fasst zusammen: „An die Orte wiederzukehren, die wir erstmals 2012 untersuchten und die damals aufgezeichneten Phänomene des Klimawandels weiter zu verfolgen, ist für mich das wesentliche Ziel der Expedition. Wir sind sehr überrascht von der diesjährigen Veränderung in der Kopplung zwischen Meereis, Ozean und Meeresboden. Und froh, dass der weltweit heißeste Sommer 2023 nicht zu einer neuen Rekordschmelze geführt hat, da die zentrale Arktis durch eine besondere Wetterlage geschützt war.“

Ergebnisse der Meereisphysik erklären die Beobachtungen: So zeigte sich in diesem Jahr schon früh eine Anomalie in der Eisdrift, die dickeres Eis aus der westlichen zentralen Arktis nach Süden drückte. In den Regionen, wo 2012 und 2020 während MOSAiC junges Eis vom sibirischen Schelf mit vielen Algen gefunden wurde, dominierte dieses Jahr stark aufgeschmolzenes zweijähriges Eis aus dem kanadischen Becken. In den Sinkstofffallen und am Meeresboden war daher kaum abgesunkenes Material aus dem Eis zu finden. Auch die Ozeanographen bemerkten eine Anomalie: Die Schichtung des Meerwassers unter dem Eis war lokal durch Schmelzprozesse oder Vermischung durch starken Wind ausgeprägt, zeigte jedoch vergleichsweise hohen Salzgehalt. Grund ist wahrscheinlich eine geringere Schmelze und reduzierter Eintrag des Süßwasser-reichen Sibirischen Schelfmeeres. Direkt unter dem Eis begegneten den Planktologinnen und Planktologen an jeder Station auch andere Schwärme von Tieren – wie Manteltiere, Quallen, Flügelschnecken, Flohkrebse und Ruderfußkrebse. Anders als in 2012 wurde kaum Export von Biomasse in die Tiefsee beobachtet. Denn auch am Ende der Schmelzsaison gibt es noch eine ausgeprägte Schneeschicht auf dem Meereis. Diese macht das Eis und den Ozean darunter recht dunkel und führt sogar zum Aufsteigen von Phyto- und Zooplankton aus tieferen Wasserschichten an die hellere Unterseite des Eises. Zudem gibt es kaum Schmelztümpel auf dem Meereis, die sonst charakteristisch für den arktischen Sommer sind.

Auch die Vergleiche mit der Ausdehnung des Meereises während der MOSAiC-Drift-Expedition 2019-2020 lassen vermuten, dass 2023 über beiden Rekordminima von 2012 und 2020 liegen wird. Trotz des – seit Beginn von Wetterbeobachtungen  – weltweit heißesten Sommers 2023 zeigt das Meereis der Arktis durchschnittlich sogar etwas höherer Dicken als in den vergangenen Jahren. Sowohl die Meereisphysikerinnen und Meereisphysiker als auch die Klimadynamikerinnen und Klimadynamiker erklären das Phänomen mit einem starken Tiefdruckeinfluss in der zentralen Arktis. Es bleibt noch abzuwarten, wie sich die Eisschmelze bis Mitte September zum Minimum der Eisausdehnung entwickeln wird. Die ersten Herbststürme transportieren gerade warme Luft in Richtung Arktis.

Gestern erreichte das AWI-Forschungsschiff planmäßig den Nordpol. Es ist das insgesamt siebte Mal, dass der Forschungseisbrecher Polarstern in seiner 42-jährigen Geschichte den nördlichsten Punkt der Erde erreicht. Zuletzt drang das Schiff am 18. August 2020 während der MOSAiC-Expedition mit dem Expeditionsleiter Markus Rex bis zum Nordpol vor. Gerade begannen die mehrtägigen Arbeiten der laufenden Expedition ArcWarch mit einem Tauchgang zum geographischen Pol bei 90°N in 4224 m Wassertiefe. Derzeit bauen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ihre Observatorien auf der Eisscholle, im Ozean und am Meeresboden auf. Anschließend werden sie ihre Forschungsarbeiten entlang des 60. Breitengrads fortsetzen. Die Polarstern wird am 1. Oktober 2023 wieder in Bremerhaven zurückerwartet.

Dabei ist auch ein Kamerateam der UFA Documentary GmbH, das die Expedition filmisch begleitet. Geplant ist die Ausstrahlung der in Kooperation mit dem NDR entstehenden Fernseh-Dokumentation für den Jahreswechsel in der ARD. Bereits während der Expedition können Interessierte im Hörfunkprogramm von Radio Bremen Eindrücke von Bord gewinnen und die Expedition natürlich auch in der Polarstern-Web-App und auf den Social-Media-Kanälen des Alfred-Wegener-Instituts verfolgen.

Diese Pressemitteilung findet ihr beim Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung.

Am 03. August 2023 ist die Polarstern in Richtung Nordpol aufgebrochen, um im Rahmen von ArcWatch 1 die Biologie, Chemie und Physik des Meereises und die Auswirkungen der Klimakrise auf das arktische Ökosystem zu untersuchen.

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